Berichte

Eine Nacht in Venedig

Fünf Jahre. So lange mussten alle OL-Feinschmecker warten, um in Venedig gutes italienisches Essen und die Stadt wieder mit Karte & Kompass im Renntempo bei Tag und Nacht genießen zu können. Die 38. Auflage des Meeting Orientamento Venezia [MOV] lockte am 10. und 11. November 2023 auch mehr als 20 Läuferinnen & Läufer unseres Vereines in die Lagunenstadt. Mit Stirnlampe. Mit Gummistiefel. Mit Begeisterung.

„Eine Nacht in Venedig“ muss man erlebt, muss man selbst gespürt haben. Die gleichnamige, komische Operette von Johann Strauss, die 1883 uraufgeführt worden ist, ist nicht gemeint. Wobei 140 Jahre später das aus 1600 sportlichen Darstellern bestehende sehr internationale Ensemble eine ähnliche Verkleidungs- und Verwechslungskomödie erlebt hat. Ähnlich, und doch ganz anders.

Samstag Abend verkleiden sich auch Frederic; Mika, Marina & Anna; Natalia, Cleo & Emil, Elisabeth & Matilda, Sabine & Arnulf, Hannes, Sabine & Fabian, Babsi, Boris & Maya; Christine, Erich, Hannes, Oli & Sofia als sportliche Nachteulen, legen bunte Kostüme an und erleuchten mit ihren kleinen Scheinwerfen die Freiluftbühne Venedig und ermitteln den Weg durch das historische Labyrinth. Die Suche nach dem richtigen Weg macht Spaß, man darf von einer (Straßen)Verwechslungskomödie sprechen. Aber Straße ist hier nicht Straße. Die Venezianer unterscheiden die Fußwege ihrer Stadt sehr sorgsam. Da gibt es die Hauptstraßen Rughe & Salizade, die als erstes gepflastert wurden. Calle werden die engeren Straßen genannt und Fondamenta heißen die Straßen längs der Kanäle. Von einer Calle kann man immer wieder in kurze „Zweige“ abbiegen, dann läuft man auf einem Ramo. Wir lernen aber auch viel über Redewendungen:  Etwa, dass „am Abend werden die Gehsteige hochgeklappt“ sicher nicht in Venedig erfunden wurde. Aus zwei Gründen: Es gibt keine Gehsteige und es ist auch in der Nacht viel los. Für Orientierungslauf manchmal zu viel. Plötzlich ist bei diesem Nacht-Sprint eine Calle zu einem Corti gesperrt. Der Posten in diesem Innenhof ist nicht erreichbar. Wir „spüren den Druck der Straße“. Aber nicht, weil Menschen gemeinsam für eine politische Sache kämpfen, sondern weil Sicherheitspersonal uns energisch am Passieren hindert. Durch diese „Gassi gehen“ ist nicht erlaubt. Später wird dieser Posten aus der Wertung genommen, viele Ergebnisse dieser ersten Etappe müssen korrigiert werden. Ironischerweise ist es ein Straßenfest, das das OL-Straßenfest beeinflusst.      

Auch am Sonntag „gehen wir auf die Straße“, um unser Können zu demonstrieren. Diesmal bei Tageslicht am Vormittag. Diesmal über die Mitteldistanz. Wer gewinnen will, muss Gas geben, muss irgendwie zum „Hans Dampf in allen Gassen“ werden. Und auf allen Plätzen. Die haben verschiedenen Größen und ebenso verschiedenen Bezeichnungen. Da wäre zunächst die Piazza, dieser Begriff ist in Venedig der Piazza di San Marco vorbehalten. Der Markusplatz bietet sich in manchen Kategorien als Routenwahl für Liebhaber von Menschenmassen an. Nicht weniger los ist auf der einzigen Piazzetta der Stadt, dem Platz vor dem Dogenpalast. Dafür ist das Orientieren auf einem Campo leicht, das ist ein Platz mit einer Kirche, auf dem sich früher ein Gemüsegarten oder eine Weide befand. Der Campiello ist kleiner, und dicht von Häusern umgeben. Enge Passagen, die Sotoportego  verbinden Calli, Campielli und Corti. Auf unsere Karte gibt es auch farblich gekennzeichnete Bereiche, wo mit viel Gedränge und touristischer Laufbehinderung gerechnet werden muss. Wie auf den Merceries, wo das „Geld auf der Straße liegt“, denn das sind die Gassen mit den Geschäften. Hier und auf den teilweise sehr engen Rive, die längs der Seitenkanäle verlaufen, kann man „kalte Füße bekommen“. Kalt, weil nass. Heute ist ein Tag mit Acqua Alta. Das typische Winterhochwasser reicht teilweise bis zur Wade. Es ist irgendwie nicht falsch, von Wasserstraßen sprechen. Unsere Spritzigkeit missfällt anderen Gästen der Stadt. Dennoch rücken alle mancherorts enger zusammen. Nämlich in den Straßen und Gassen, wo Stege aufgebaut wurden. Und dann sind da weitere entscheidende Elemente im innerstädtischen Fußgängerverkehr, die Ponti. Es gibt hunderte Brücken in Venedig, jede hat einen eigenen Namen. Es ist wohl bezeichnend: Der Schluss-Sprint ins Ziel führt an beiden Tagen über die Ponte del Paradiso.

Es darf gejubelt werden. Babsi [W50-] gewinnt die Gesamtwertung, Marina [W45-] wird Dritte. Erich [M55-], Anna [W12-] & Frederic [M65-] belegen die Plätze 4, 5 & 6. Eines steht fest. Ein OL in Venedig ist etwas ganz Besonderes. Und ein OL in Venedig ist keinesfalls ein Straßenlauf mit Orientierungsaufgaben. Denn es gibt in Venedig nur eine einzige Straße, die diesen Namen wirklich trägt, die Strada Nova. Dafür ist ein OL in Venedig wie eine Redewendung Das Leben ist keine Einbahnstraße. Es besteht aus Irrungen und Umwegen“.