Berichte

„Allegra!“ – Swiss Orienteering Week 2016


Ferienzeit ist Reisezeit. Der traditionelle, hochsommerliche Naturfreunde-Vereinsausflug führt fast 50 große und kleine, begeisterte und hochmotivierte OL-Junkies im Juli 2016 zur Swiss Orienteering Week nach St. Moritz.

St. Moritz ist nicht nur ein weltberühmter Kur und Wintersportort, sowie ein Treffpunkt der Reichen und Schönen, sondern ist zudem der Ort, an dem 1928 und 1948 die olympischen Winterspiele stattgefunden haben. Auch für uns entwickelt sich die Woche im Engadin zu einer olympischen Herausforderung.

Fotos
Veranstaltungshomepage mit Ergebnissen

 Tag 1 – Marathonlauf

Den ersten Kontakt mit den feinen Engadiner Wäldern nehmen wir im Tal auf, das bedeutet hier knapp 1700m über dem Meer. Die Arena der 1. Etappe – Langdistanz in S-chanf  befindet sich im Zielbereich des legendären Engadiner Schimarathons. Heute werden aber nicht Skating-Schi abgeschnallt, sondern die OL-Schuhe angezogen. Um hier im mittelsteilen Gelände links und rechts des Inns von einem Waldstück ins nächste zu gelangen, gibt es immer wieder (Pflicht)Marathonlauf-Strecken. Das sorgt für Tempowechsel und ist vor allem schön für den Kilometer-Schnitt. Immerhin. Der Wald ist teilweise offen und mit seinem Grasbewuchs auch gut und flott belaufbar, dazu in den kupierten Abschnitten mit Hügeln, Rinnen, Mulden und Senken technisch anspruchsvoll. Einige berichten im Ziel auch von Bären-Sichtungen. Gegen Ende des Rennens durchlaufen wir nämlich einen Bogensport-Parkour mit lebensgroßen Tierfiguren. Kurz, es ist für alle von uns etwas dabei. Bei Sonnenschein und hochsommerlichen Temperaturen sammeln wir so die ersten Swiss O-Week-Kilometer und Erfahrungen.

Tag 2 –  Shorttrack

Nur das klare, eiskalte Wasser des St. Moritzer Sees liegt ruhig zwischen der Zielarena und  den mondänen Hotels und exklusiven Geschäften des Nobelschiortes St. Moritz. Die 2. Etappe – Mitteldistanz God da Staz beginnt direkt am Ortsrand und ist in vielen Kategorien die kürzeste Etappe der Woche, Shorttrack also. Der Lauf führt uns hinein ins Naturparadies Stazerwald (rätoromanisch God da Staz). Der Arven-Lärchenwald ist durch einige steinige Abschnitte, den Heidelbeerbewuchs, die vielen Rundhöcker, detailreiche Hügelformationen und Hochmoore physisch und technisch sehr fordernd. Und wunderschön. Aus Umweltschutzgründen wurde schon 1908 die Strecke der Rhätischen Bahn zum Bernina-Pass um den Stazerwald herumgebaut und nicht, wie ursprünglich geplant, mittendurch. Und wenn es den heutigen letzten Posten so nicht geben würde, müsste man ihn genauso erfinden. Wir laufen aus dem Stazer Wald heraus, direkt auf den See zu, dahinter liegt, wie eine Filmkulisse, St. Moritz. Überragend. Und überragt vom Piz Nair. Mit diesen Eindrücken im Kopf fallen auch die letzten leicht bergauf führenden 100m ins Ziel leicht. Und wir anschließend erschöpft auf die SOW-Picknickdecken, die jeder der 4000 Teilnehmer bekommen hat.   

Tag 3 – Bergsteigen

Von St. Moritz sind es knapp 25km bis zum Bernina-Pass. Viele der Läuferinnen und Läufer aus 37 Nationen reisen mit der Rhätischen Bahn direkt ins Wettkampfzentrum. Bei der Station Bernina-Diavolezza heißt es „Bitte aussteigen“. Die Arena liegt auf den Wiesen rund um die Talstation der Seilbahn. Wobei das Wort Talstation hier anders interpretiert wird. Die moderne Großkabinenbahn bringt Besucher von 2100m (Tal) hinauf auf 3000m (Berg) zum Diavolezza-Gipfel und führt im unteren Bereich quer über das Laufgebiet der 3. Etappe – Langdistanz Diavolezza. Aus dem Wettkampfzentrum bietet sich ein großartiger Panoramablick auf das Laufgebiet in Hanglage, das fast zur Gänze über der Baumgrenze liegt. In der Beschreibung des Geländes ist zu lesen: „Die zahlreichen Geländeformen, die vielen Felsen und Steinfelder lassen Spielraum für individuelle Routenwahlentscheidungen“. Was in der erlebten Praxis bedeutet, dass man sich jederzeit im Felslabyrinth verirren kann. Auch ich lerne hier während des Bergsteigens viele Postenstandorte kennen, die sich nicht auf meiner Bahn befinden. Viele andere strahlen nach guten Leistungen im Ziel, so wie die Sonne vom Himmel. Zu Recht gönnen sich manche nach dem Rennen ein riesiges Eis. Gletscher-Eis. Vom Diavolezza-Gipfel schaut man dem einzigen 4.000er der Ostalpen, dem Piz Bernina direkt ins dauerfrostige Gesicht und kann den Blick auch über den 6 Kilometer langen, mächtigen Morteratsch-Gletscher wandern lassen.

Ruhetag  – Wildwasserslalom

Der Inn entspringt unweit von St. Moritz nahe des Malojapasses und prägt mit seinem klaren Wasser die Landschaft des Engadin. Rund um Scuol im Unterengadin ist das Gefälle größer, der Inn hat sich tief in den Talboden eingegraben und eine wunderschöne Schlucht entstehen lassen. Die Natur hat hier einen schnell fließenden Abenteuerpark geschaffen. Es ist der perfekte Platz für aktive Erholung. Das Naturfreunde-Inn-Team stellt sich, behelmt und gehüllt in Neopren, die Hände am Paddel, in 3 Rafting-Booten den Stromschnellen. Die Kommandos lauten „Vorwärts Paddeln!“, „Rückwärts paddeln!“, Festhalten!“ sowie „Mann über Board!“. Und das nicht nur einmal. So können wir auch das Retten und Bergen von Schwimmern üben und festigen. Fast eineinhalb Stunden dauert der spektakuläre Tanz mit der Strömung, der Wildwasserslalom im Gummiboot. Motto: großer Spaß im kühlen Nass. Andere erobern trockenen Fußes die Welt der 3.000er rund um St. Moritz. Genießen die Berge, die Gletscher, die Seen. Zu sehen gibt es viel. Auch aus den Panorama-Wagen des Bernina Express‘. Die roten Lokomotiven und Waggons bringen einige Bahnfreunde unseres Vereines in rund zwei Stunden bis nach Tirano in Italien. Durch Tunnels. Über Brücken. Und über das weltberühmte Kreisviadukt von Brusio. Die Strecke gehört zum UNESCO Welterbe und bietet die Chance, die Landschaft in vollen Zügen zu genießen. Im Engadin gibt es viel zu sehen, viel zu erleben, viel zu tun. Möglicherweise wurde hier auch das Wort „Freizeitstress“ erstmals urkundlich erwähnt.

Tag 4 – Nordische Kombination

Ab sofort heißt es früh aufstehen. In der zweiten Hälfte der Swiss O-Week haben wir alle frühe Startzeiten. Der Campingplatz ist noch in Morgennebel gehüllt, als wir aufbrechen. Die Rückkehr in den Wettkampfmodus fällt nicht schwer. Auch wenn uns der Malojapass mit starkem Regen seine Aufwartung macht. Gott sei Dank regnet es endlich, mir geht schon die sonnenverbrannte Haut von der Nase ab. Irgendwie ist es aber auch klar und logisch, dass es hier an dieser großen europäischen Wasserscheide feucht sein muss. Der Regen geht. Die Freude kommt. Und eines haben wir mittlerweile hocherfreut zur Kenntnis genommen: jeder Tag, jeder Lauf führt uns in spektakuläres und o-technisch anspruchsvolles Gelände, bringt neue Herausforderungen, bringt neue Erlebnisse. Das gilt auch für die 4. Etappe – Langdistanz Maloja. Oder bist du schon einmal zum Startdreieck über eine mächtige Staumauer gelaufen ? Glücklich sind auch alle, die ihre Bahn zum See „Lägh da Biatabergh“ bringt, mitten hinein in die hochalpine Idylle. Bestimmt sitzt hier irgendwo Heidi vor der Hütte auf dem Schoß vom Alm-Öhi. Doch es bleibt kaum Zeit zum Staunen. Das Gelände ist durchsetzt von detailreichen Hügeln und Sümpfen. Es ist eine Mischung aus typisch alpinem und typisch norwegischem Gelände. Es ist eine Art Nordische Kombination und hat einfach viel zu bieten. Auch hier gibt man uns wieder die Möglichkeit für Verirrungen jedweder Art und Richtung. In überwachsenen Blockfeldern ist von Laufen nicht die Rede, dafür kann man sich auf den Almweiden im Schlussabschnitt tempomäßig austoben.                 

Tag 5 – Abfahrtslauf

Und es geht immer noch besser. Auch der Freitag beginnt feucht, aber fröhlich. Wieder Regen. Aber denn steigen wir um 9 Uhr gemeinsam mit der Sonne in 2.300m aus der Seilbahn und bauen auf einer saftigen Almwiese, die, so vermittelt es uns die eindeutige Beweislage, normalerweise glücklichen und freilaufenden Schweizer Kühen vorbehalten ist, unser Vereinszelt auf. Wir sind bereit für die 5. Etappe – Mitteldistanz Furtschellas. Auf dem steilen Weg zum Start wird die Luft knapp. Und dünn. Das Laufgebiet ist baumfrei und  steinreich. Die OL-Karte musste nicht im 4-Farben-Druck hergestellt werden. Gelb, Schwarz und Braun reichen hier. Zwischen 2.500m und 2.700m arbeiten wir uns durch Block- und Steinfelder, umrunden wunderschöne Bergseen, navigieren durch Felsformationen und freuen uns im Ziel über ein außergewöhnliches Lauferlebnis. Ein Erlebnis, das bei weitem nicht alle der 4.000 Teilnehmer genießen dürfen. Denn heftige Gewitter nähern sich. Um 12 Uhr wird die 5. Etappe abgebrochen. Wenig später stellt auch die Seilbahn ihren Betrieb ein. Auch der Wanderweg zur Talstation wird aus Sicherheitsgründen gesperrt. Wir sitzen fest. Im Gewitter. Im Gebirge. In der Bergstation. Geduldig und diszipliniert warten alle. Erst Minuten, dann Stunden. Gegen halb Drei werden wir informiert, dass die Seilbahn wieder für 90 Minuten fahren wird. Zu kurz, um vor der nächsten Gewitter-Zelle alle ins Tal zu transportieren. Es wird uns nahegelegt, jetzt auch den wieder freien Wanderweg zu nutzen. Genauso gut hätte man „Auf die Plätze, fertig, los“ sagen können. Es ist wie ein Abfahrtslauf mit Massenstart. Hunderte machen sich wild entschlossen und zügig auf den gatschigen Weg ins Tal. Es ist wie der „Auszug aus Ägypten auf schwyzerdütsch“. In 45 Minuten sind wir unten und wenig später auf dem Rückweg zum Campingplatz. Ende gut, fast alles gut. Die Ergebnisse der 5. Etappe werden nämlich annulliert und kommen nicht in die Gesamtwertung.

Tag 6  – Wasserball

Und dann ist er da, der letzte Tag. Leider viel zu schnell. Die 6. Etappe – Langdistanz in Sils Maria bietet noch einmal eine Art  Rückblick auf alle Geländetypen der vorangegangenen fünf Etappen. Konkret handelt es sich um ein abwechslungsreiches, alpines Gelände. Offene und schnell belaufbare Almweiden wechseln mit detailreichen, teils ruppigen und mit hohem Gras bewachsene Waldpartien ab. Auch Felsen und Steine sind wieder gut im Laufgebiet verteilt. Zudem sorgen Forststraßen und Wanderwege für stellenweise hohes Lauftempo und verlangen schnelle Entscheidungen bei den Routenwahlen. Die letzten Posten führen dann durch einen schönen Wald hinunter ins Zielgelände bei der Talstation der Furtschellas-Bergbahn. Auch in Sils Maria hat das Laufen und das Orientieren wieder sehr viel Spaß gemacht. Auch die 6. Etappe ist kein Rennen wie jedes andere, sondern ist auch ein forderndes Finale und für uns, auch wenn verregnet, so etwas wie der Swiss O-Week-Abschlussball. Ein Wasserball quasi.

 

Eine intensive, aber wunderschöne Woche mit vielen o-technischen Herausforderungen in herrlichen Laufgebieten ist viel zu schnell zu Ende gegangen. Spätestens jetzt ist klar, wie der alte, im Oberengadin gebräuchliche Gruß „Allegra!“ zu verstehen ist – Allegra ist am besten mit „Freue Dich!“ Zu übersetzen. Mich hat es sehr gefreut.                                                                             

(Boris)